Warnung vor dem Kunden

Kunden sind ein schlechter Maßstab für Innovationen. Kunden sind häufig langweilige Gewohnheitstiere. Kunden fordern gerne lautstark Verbesserungen. Dabei orientieren sie sich ausschließlich und egoistisch an ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen, obwohl ihnen als Anwendern das Wissen um die Möglichkeiten fehlt. Nehmen Sie die (blutjunge) Geschichte des iPhones.

Mal angenommen, Apple hätte Marktforschung betrieben und vor der Präsentation des ersten iPhones den Kunden folgende Fragen gestellt:

 

Wollt ihr ein Mobiltelefon, dass 500 € kostet? Wollt ihr ein Handy, dass ihr jeden Abend aufladen müsst? Ach ja, und es funktioniert nur im Netz von T-Mobile. Tasten hat es auch nicht (bis auf eine). Und es verfügt nur über den langsamen EDGE-Übertragungsstandard. GPS? Fehlanzeige. Die Kamera hat magere 2 Megapixel (und selbstverständlich keinen Blitz). Videoaufnahmen? Sorry, Fotos müssen erst mal reichen. Der Bildschirm hat nur eine Auflösung von 160dpi und zur Auswahl stehen lediglich 4 oder 8 GB Speicher. Aber hey, dafür ist es ein toller iPod und ein revolutionäres Mobiltelefon. Und das Sahnehäubchen ist die Möglichkeit, unterwegs im Internet surfen zu können (mit EDGE und lediglich mit den vorinstallierten Apps). „Are you getting it?!“ (O-Ton Steve Jobs bei der Vorstellung).

 

Was glauben Sie, hätten Kunden geantwortet? Genau! Jobs hätte gar nicht so schnell rennen können, wie er vom Hof gejagt worden wäre. Kunden sind träge und fantasielos. Kunden betteln nicht nach revolutionären Angeboten. Kunden wünschen sich Verbesserungen – na klar – aber bitte nur in homöopathischen Dosen. Kunden halten keine Meetings ab, um herauszufinden, ob dieses neue Mobiltelefon ihr Leben erleichtern kann. Im Gegenteil. Sie sind Skeptiker. Jedes neue Angebot muss sich mit der bestehenden Lösung messen. Dabei ist die Vergangenheit ein schlechter Maßstab für ein revolutionäres Angebot. Mit unseren ollen Nokia-Handys haben wir SMS-getippt und telefoniert. Das war’s. Auf einem Smartphone schreibt niemand mehr SMS. Zur Erinnerung: Eine SMS hatte einen Umfang von 160 Zeichen und kostete 19 Cent. Getippt haben wir auf einer winzigen Zehner-Tastatur. Und erhalten habe ich oft völlig unverständliche Nachrichten im Telegrammstil – bestehend aus Rechtschreibfehlern und wirren Abkürzungen:

 

  • hdgdl = hab dich ganz doll lieb 
  • cu = See you!
  • CUL8r = see you later
  • LOL = laughing out loud
  • LG = Liebe Grüße
  • LAMAWI = Lach mal wieder
  • 2L8 = too late
  • asap = as soon as possible
  • Fanta = Fahr noch tanken
  • gglG = ganz, ganz liebe Grüße
  • i.O. = in Ordnung
  • kA = Keine Ahnung
  • l8r = later (Bis später)
  • omg = oh my god
  • rofl = Rolling on the floor laughing
  • xoxo = kisses
  • WTF = What the fuck
  • LMAA = na, Sie wissen schon ;-)

Wer so kommunizierte, konnte sich wohl kaum vorstellen, dass es bald »WhatsApp« geben würde. Heute sind SMS und Telefonate höchstens noch nette Ad-ons unserer Smartphones.

 

»Ich halte es sogar für einen gigantischen Fehler, revolutionären Gerätekategorien keine neuen Namen zu geben.«

 

Ein Smartphone ist kein Telefon, sondern ein Mobilcomputer, eine Kamera, ein Camcorder, ein Tonstudio, eine Spielkonsole, u. v. m. und verfügt ganz nebenbei noch über eine Telefonfunktion. Eine Smartwatch ist keine Uhr, sondern eine Fernbedienung fürs Smartphone, ein Handgelenkcomputer, ein Fitnesstracker und ein medizinischer Sensor. Die Anzeige der Uhrzeit ist bloß eine nette Zugabe. Die Bezeichnungen „Uhr“ oder „Telefon“ verleiten regelrecht zum Vergleich mit Geräten aus der Vergangenheit.

 

Selbstverständlich möchte ich hier nicht unsere Kundschaft dissen. Es ist nicht die Aufgabe unserer Interessenten, sich Gedanken über neue Möglichkeiten zu machen. Das ist verdammt noch mal unser Job! Stattdessen verlassen sich Unternehmen viel zu oft auf Marktforschung, Trends und Bänker. Das Resultat sind mikroskopisch winzige Veränderungen. Denn die versprechen (marginale) Gewinnsteigerungen bei geringem Risiko. „Are you getting it?!“ Bin ich ungerecht? Ich glaube nicht. Na gut, vielleicht ein bisschen. Ich möchte zu mutigerem Handeln aufrufen. Die Kunden haben vor den Apple Stores gecampt, um eines der ersten iPhones zu ergattern. Aber das waren nicht die Kunden von heute. Das waren sogenannte »Early Adopter«. Neugierige Verrückte, die gerne Neues ausprobieren. Diese sympathischen „Testpiloten“ sind die Multiplikatoren, die disruptiven Produkten zum Durchbruch verhelfen. Wir müssen den Mut aufbringen, unsere Kunden auch mit radikalen Neuheiten zu konfrontieren. Und uns die Frage stellen:

Wer könnten unsere „Early Adopter“ sein?

Die Zufriedenheit unserer Kunden ist nur ein Mangel an Erfahrung. Ein Mangel an Wissen, dass es etwas Besseres gibt, als das Angebot von heute. Ihre Skepsis gegenüber neuen Angeboten ist nur ein Mangel an Erlebnissen. Niemand ist wieder zu seinem Nokia-Mobiltelefon zurückgekehrt, nachdem er vom süßen Wein (iPhone) gekostet hat. Wenn wir diese Erfahrungen nicht liefern, laufen wir Gefahr, dass es ein Mitbewerber tut, oder – viel wahrscheinlicher – ein Quereinsteiger oder Start-up. 

INNOVATION IST IMMER EINE WETTE

Der Erfolg des iPhones ist keineswegs sicher gewesen. Zahlreiche „Experten“ haben es müde belächelt und einen grandiosen Flop prognostiziert. Natürlich hätte Apple sich auch bequem noch einige Jahre auf dem Erfolg des iPods ausruhen können. Apple’s Kult-Spieler hatte im Jahr der iPhone-Einführung einen Marktanteil von 62 Prozent!! Handlungsdruck sieht anders aus. Aber Apple war paranoid (eine essenzielle Eigenschaft von erfolgreichen Unternehmen). Mobiltelefone waren längst etabliert. 2007 tobte ein unsichtbarer Kampf um den Platz in unserer Hosentasche. MP3-Player versus Mobiltelefon. Apple war klar – eines Tages würden die Kunden nur noch ein Gerät in der Tasche akzeptieren. Also kannibalisierte Apple lieber selbst den eigenen Branchenprimus iPod, bevor es den Hosentaschen-Krieg verlieren würde. Wir müssen Bedrohungen erkennen, akzeptieren und – ganz wichtig – verstehen, statt uns hinter dem eigenen Erfolg zu verschanzen. Der Erfolg von heute kann nicht den Untergang von morgen verhindern. Als das elektrische Licht seinen Siegeszug antrat, hielt die Gaslichtindustrie mit einer massiven Produktivitätssteigerung dagegen. Damit bremste sie kurzfristig die Pioniere aus. Aber aufzuhalten, waren sie nicht mehr. Es war ein letzter erbärmlicher Versuch mit Geld und Marktmacht ein besseres Angebot zu verhindern. Das radikal neue Angebot war der verbesserten Bestandstechnologie turmhoch überlegen. Nicht nur aus technologischer Sicht, sondern vor allem aus Kundensicht (Komfort, Sicherheit, Einfachheit, Bequemlichkeit, …). 

Eine Idee ist nie disruptiv. Erst durch ihre massenhafte Verbreitung werden ganze Märkte umgekrempelt.

Also werden Sie experimentierfreudiger! Finden Sie Ihre „Early Adopter“ und trauen Sie sich, ihnen etwas gravierend Neues zu unterbreiten. Sorgen Sie dabei für bleibenden Eindruck durch spitzenmäßige Erfahrungen mit Ihrem Angebot. Werden Sie mutiger. Niemand hat 2007 geahnt, dass das iPhone zur Fernbedienung unseres Lebens werden würde und Apple zum wertvollsten Unternehmen der Welt machen würde. Und holen Sie sich externe Unterstützung (Early Adopter, Nerds, Vorreiter, Kreative, T-Shaped-People, Ideenaktivisten, …). Dann (und nur dann) überwinden Sie die Grenzen der eigenen Branche. Dann (und nur dann) gelingt es Ihnen, verblüffende Lösungen zu entwickeln. Dann (und ja, nur dann) schaffen Sie eine Unternehmenskultur, mit der Sie Ihre Kunden für umwerfende Innovationen begeistern – immer und immer wieder! Versprochen!!

 

TLDR!

Werden Sie paranoid. Werden Sie draufgängerisch. Und bleiben Sie neuGIERIG!

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